Zusammenfassung 1. Die europäische und deutsche Postpolitik steht im Jahr 2007 vor wichtigen Weichen- stellungen. Die geplante Aufhebung der noch verbliebenen Monopole im Briefmarkt wird nicht nur Konsequenzen für die Qualität der postalischen Versorgung, sondern auch für die Beschäftigungsbedingungen im Briefsektor haben. Die vorliegende Studie befasst sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, ob und in welchem Ausmaß bei den seit der begonnenen Liberalisierung in den Markt eingetretenen neuen Briefdienst- leistern prekäre Beschäftigung - insbesondere in den Dimensionen „Beschäftigungssta- bilität“, „Einkommen“ und „Teilhabe“ - festzustellen ist. 2. Die Problematik eines möglichen liberalisierungsbedingten Prekarisierungsschubs im Briefmarkt wurde in Deutschland bereits in der zweiten Hälfte der 90er Jahre im Zuge der Beratungen zum Postgesetz (PostG) intensiv erörtert. Ihren Niederschlag fand diese Besorgnis vor allem in der so genannten „Sozialklausel“ von § 6 Abs. 3 Nr. 3 PostG. Nach dieser ist die Erteilung einer Lizenz zum Angebot von Briefdienstleistungen dann zu versagen, „wenn … Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller die wesentlichen Arbeitsbedingungen, die im lizenzierten Bereich üblich sind, nicht uner- heblich unterschreitet“. 3. Zwischen 1998 und 2005 sind die im Briefmarkt erzielten Umsätze in Deutschland um 3,8% gestiegen; dies entspricht einer sehr moderaten Wachstumsrate von durchschnitt- lich 0,54% pro Jahr. Für die kommenden Jahre wird in der Mehrzahl der Prognosen eine Stagnation, günstigstenfalls jedoch ein äußerst bescheidendes Wachstum des deutschen Briefmarktes erwartet. Im Jahr 2005 entfielen in Deutschland 704 Millionen Euro des gesamten Umsatzes von 10,2 Milliarden Euro auf die in Konkurrenz zur Deutschen Post AG stehenden Lizenznehmer, die ihren Marktanteil damit kontinuierlich von 0,8% in 1998 - dem Jahr des Inkrafttretens des Postgesetzes - auf 6,9% in 2005 steigern konn- ten. 4. Am deutschen Briefmarkt lassen sich neben der Deutschen Post AG derzeit drei ver- schiedene Akteursgruppen ausmachen: - Tochtergesellschaften ausländischer Postunternehmen (z.B. TNT), - Tochtergesellschaften von Zeitungsverlagen (z.B. PIN Group), - unabhängig operierende Briefdienstleister (z.B. Jurex). Im Vorfeld und nach der vollständigen Liberalisierung ist mit einer Konsolidierung des Marktes durch Übernahmen sowie dem Eintritt weiterer ausländischer Wettbewerber zu rechnen. Eine von Pricewaterhouse Xxxxxxx verfasste Studie für die Europäische Kom- mission geht davon aus, dass die neuen Anbieter nach erfolgter Marktöffnung ihre Stellung deutlich ausweiten und bis 2011 Marktanteile in der Größenordnung von rund 20% auf sich werden vereinen können. 5. Bei den rund 950 aktiven Lizenznehmern, die im deutschen Briefmarkt im Jahr 2004 im Wettbewerb zur Deutschen Post AG standen, waren insgesamt 34.410 Arbeitnehmer beschäftigt. Ausgehend von einem Stand von 17.650 Beschäftigten im Jahr 1999 hat sich deren Zahl damit fast verdoppelt. Den durch umfassende Rationalisierungsmaß- nahmen, elektronische Substitution und Marktanteilsverluste bedingten Abbau von 28.908 Arbeitsplätzen im Bereich Brief der Deutschen Post AG von 1999 bis 2004 konnten die 16.760 im gleichen Zeitraum neu geschaffenen Arbeitsplätze bei den Li- zenznehmern allerdings nicht kompensieren. Insgesamt ist die Zahl der Arbeitsplätze im deutschen Briefmarkt von 1999 bis 2004 um 6,2% oder 12.148 Stellen zurückgegangen. Umgerechnet auf Vollzeitstellen stellt sich der Arbeitsplatzsaldo im deutschen Brief- markt sogar noch deutlich schlechter dar: Wurden bei der Deutschen Post AG im Zeit- raum von 1999 bis 2004 rechnerisch 22.063 Vollzeitstellen abgebaut, so ist die Anzahl der auf Vollzeitstellen umgerechneten Arbeitsplätze bei den Lizenznehmern nur um 7.006 gestiegen. Insgesamt fallen die Beschäftigungseinbußen bei dieser Betrachtungs- weise mit minus 15.057 Arbeitsplätzen (-9,9%) wesentlich empfindlicher aus, als dies die reine Betrachtung der Kopfzahlen zum Ausdruck bringt. 6. In der Dimension „Beschäftigungsstabilität“ zeigt sich, dass sozialversicherungspflich- tige, langfristig angelegte Arbeitsverhältnisse bei den Lizenznehmern im Briefmarkt zu einem weitgehend atypischen Muster geworden sind. Mit einem Minijob-Anteil von 62,3% (2004) und einer weiten Verbreitung befristeter Arbeitsverträge dominieren bei den neuen Briefdienstleistern Beschäftigungsformen, die durch ein hohes Maß an Unsi- cherheit, Instabilität und Abhängigkeit charakterisiert sind. Der Anteil sozialversiche- rungspflichtiger Beschäftigung bei den Lizenznehmern ist von 45,9% im Jahr 1999 auf 37,7% im Jahr 2004 zurückgegangen. Während sich die im Zuge der Liberalisierung in den Markt eingetretenen Anbieter somit zu annähernd zwei Dritteln auf geringfügige Beschäftigung abstützen, operiert die Deutsche Post AG in diesem Bereich fast voll- ständig mit sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Der Anteil von Minijobs an der Gesamtbeschäftigtenzahl liegt bei den Lizenznehmern am Briefmarkt mit 62,3% mitt- lerweile höher als in dem traditionell von geringfügiger Beschäftigung geprägten Reini- gungsgewerbe (56,3%) oder in der Gastronomie (52,8%). 7. Der durchschnittliche Stundenlohn (Median), der von den neuen Briefdienstleistern an ihre Beschäftigten bezahlt wird, beträgt nach unseren Erhebungen in Westdeutschland 7,00 Euro und in Ostdeutschland 5,90 Euro; das auf Basis dieser Stundenlöhne durch- schnittlich zu erzielende monatliche Brutto-Entgelt (Median) liegt im Falle einer 38,5- Stundenwoche bei 1.169 Euro in Westdeutschland und bei 985 Euro in den neuen Bun- desländern inklusive Berlin. In der Dimension „Einkommen“ ist damit festzustellen, dass die bei den Lizenznehmern im Durchschnitt erzielbaren Entgelte - in Westdeutschland um 40,9% und in Ostdeutschland um 50,2% unter dem Einstiegsgehalt für Zustellkräfte bei der Deutschen Post AG liegen; - in Westdeutschland um 31,5% und in Ostdeutschland um 19,9% unter den jeweili- gen Niedriglohnschwellen (zwei Drittel des Medianlohnes) dieser Regionen liegen; - insofern als nicht existenzsichernd einzustufen sind, als sie für Westdeutschland um 11,0% und für Ostdeutschland um 16,7% geringer ausfallen als ein Arbeitseinkom- men, mit dem sich der Mindestbedarf nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbu- ches II decken lässt. Relevante Teile der bei den neuen Briefdienstleistern Beschäf- tigten erfüllen folglich selbst im Falle einer Vollzeitbeschäftigung die Kriterien der Hilfebedürftigkeit nach SGB II und haben Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosen- geld II. 8. In der Dimension „Teilhabe“ ist zu konstatieren, dass es den Arbeitnehmern bei den neuen Briefdienstleistern in ihrer großen Mehrheit an der Möglichkeit fehlt, ihre beruf- lichen Interessen durch Nutzung institutionell gesicherter Partizipationschancen - z.B. durch die Xxxx von Betriebsräten oder die Mitarbeit in diesen - zu vertreten oder ihre Arbeitsbedingungen mittels kollektiver Einflussnahme - z.B. durch Tarifverträge - zu gestalten. Aufgrund der durch Hierarchie und Autorität geprägten und nicht selten mit den Ängsten der Beschäftigten kalkulierenden Personalführungsmethoden, wie sie für viele der Briefdienstleister typisch zu sein scheinen, dürften ihnen auch Optionen indi- vidueller und informeller Teilhabe an den sie betreffenden Entscheidungen weitestge- hend verwehrt bleiben. 9. Die Befunde der vorliegenden Studie machen insgesamt deutlich, dass die bei den neuen Anbietern am deutschen Briefmarkt entstandenen Arbeitsplätze ein ausgeprägt prekäres Potenzial in puncto Beschäftigungsstabilität, Einkommen und Teilhabe auf- weisen. Mit der Liberalisierung als entscheidender Voraussetzung haben vor allem die nachfolgend genannten fünf Faktoren ein Bedingungsgefüge entstehen lassen, in dessen Rahmen sich am Briefmarkt Anbieter etablieren konnten, deren Geschäftsmodell vor- nehmlich auf den Kostenvorteilen prekärer Beschäftigung basiert: - Hohe Arbeitslosigkeit mit ausgeprägten regionalen Schwerpunkten; - die arbeitsmarktpolitische Erleichterung und Subventionierung geringfügiger Beschäftigung; - staatliche Transferzahlungen an Niedriglohnbezieher, die bereits heute de facto im Sinne eines Kombilohnmodells wirken; - die mangelnde gewerkschaftliche Organisationsmacht bei den neuen Brief- dienstleistern; - die regulatorische Zurückhaltung der Bundesnetzagentur bei der Anwendung des Instruments der sozialen Lizenzauflagen. Es kann keinen begründeten Zweifel daran geben, dass sich die Prekarisierungsproble- matik bei unverändertem Fortbestand der genannten Bedingungen im Falle einer weite- ren wettbewerblichen Öffnung des Briefmarktes weiter verschärfen wird. 10. Prekarisierung führt zu einer Reihe problematischer Implikationen - für die betroffenen Beschäftigten, - für den Wettbewerb im Briefmarkt, - für die sozialen Sicherungssysteme. 11. Typische negative Begleiterscheinungen prekärer Beschäftigung sind für die betroffe- nen Arbeitnehmer u.a. - eine Blockade subjektiver Anforderungen an die Qualität der eigenen Arbeit, vor allem in puncto Einkommens- und Beschäftigungssicherheit; - eine mangelnde Planbarkeit des Lebens über längerfristige Zeiträume; - eine Existenz in der Nähe oder gar unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze; - eine unzulängliche soziale Absicherung im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder altersbedingtem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. 12. Die neuen Briefdienstleister setzen in der Konkurrenz mit der Deutschen Post AG auf einen preislichen Unterbietungswettbewerb, in dem sie ihre Kostenvorteile gegenüber dem marktbeherrschenden Unternehmen zur Geltung bringen. Dabei sind in wohl kei- nem anderen Markt vergleichbar große Lohnkostenunterschiede zwischen einem domi- nanten Anbieter und seinen Konkurrenten festzustellen, wie sie im deutschen Brief- markt gegeben sind. Problematisch ist hier insbesondere der Umstand, dass die Lizenz- nehmer ihre Kostenvorteile überwiegend aufgrund der prekären Arbeits- und Einkom- mensbedingungen ihrer Beschäftigten erreichen können. Solange dieses Geschäftsmo- dell funktionsfähig und erfolgreich bleibt, gibt es für die neuen Anbieter keine Anreize, die „low road“ zu verlassen und sich um anderweitige Unterscheidungsmerkmale von der Deutschen Post AG - etwa in puncto Qualität, Service oder Innovation - zu bemü- hen. 13. Prekäre Beschäftigung, wie sie bei den Lizenznehmern im deutschen Briefmarkt in der Form instabiler und geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse mit Niedriglöhnen weit verbreitet ist, hat problematische Konsequenzen für die Finanzarchitektur der sozialen Sicherung. Insbesondere gibt die forcierte Prekarisierung Anlass zu „Befürchtungen, dass dieser Wandel nicht nur die soziale Sicherung der einzelnen Beschäftigten (speziell die Rentenversicherung) beeinträchtigt, sondern auch die (vorrangig beitragsfinanzier- ten) sozialen Sicherungssysteme aushöhlt“ (Keller / Seifert 2006, S. 235). Diese Be- fürchtungen richten sich sowohl auf die Finanzierungsseite der sozialen Sicherungssys- teme als auch auf die Ausgabenseite der öffentlichen Hand für steuerfinanzierte Sozial- transferleistungen. 14. Die negativen Implikationen prekärer Beschäftigung begründen die Notwendigkeit ge- eigneter Gegenmaßnahmen. Im Bereich des Briefmarktes scheinen uns hierfür - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die folgenden fünf Handlungsoptionen prinzipiell denk- bar und potenziell zielführend zu sein: - Eine Aussetzung oder Verlangsamung der geplanten Marktöffnung; - eine Flankierung der weiteren Liberalisierung durch effektive Anwendung des Regulierungsinstruments der sozialen Lizenzauflagen; - die verstärkte Berücksichtigung sozialer Standards bei der Auftragsvergabe öffentli- cher Instanzen durch Tariftreueklauseln; - eine tarifvertragliche Regulierung der Beschäftigungsbedingungen bei den neuen Briefdienstleistern; - die Durchsetzung eines allgemeinen oder branchenspezifischen Mindestlohnes.